// 23. Januar 2023 //
Gemeinsame Verantwortung für einen konzertierten Ausbau des Nahverkehrs fehlt
Unbenommen: Viele werden die Entlastungswirkung des Deutschlandtickets (alias 49-Euro-Ticket), das im Mai 2023 zur Verfügung stehen soll, spüren. Immerhin zahlen Fahrgäste des RMV bspw. in der Preisstufe 4 dann monatlich rund 100 Euro weniger und in Frankfurt rund 50 Euro weniger. Aber dennoch gibt es keine Jubelstimmung. Vielerorts ist das Fahren in Bus und Bahn nämlich kein Vergnügen. Die Sitzplätze sind knapp, es braucht mehr Fahrten pro Stunde, tangentiale Verbindungen fehlen. Der öffentliche Personenverkehr löst außerdem nicht ein, was für seine Nutzung zentral ist: Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Das 9-Euro-Ticket zeigte: Die Bereitschaft zum Umstieg ist groß. Aber das Auto stehen zu lassen funktioniert beim besten Willen nicht überall. Eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung zeigte: fast 50% der Befragten aus Städten sind zufrieden mit dem ÖPNV, auf dem Land nur 31%. Es braucht mehr Schienen, mehr Mitarbeitende, mehr Fahrzeuge, damit alle den ÖPNV nutzen können. Wo das Angebot fehlt, ist der Preis des Tickets unwichtig.
Im Koalitionsvertrag haben die Regierungsparteien im Bund 2021 vereinbart, die Verkehrsleistung der Bahn bis 2030 zu verdoppeln und die Fahrgastzahlen im öffentlichen Verkehr deutlich zu steigern. Voraussichtlich wird das Deutschlandticket eine Fahrgaststeigerung bewirken. Aber einerseits liegen die 3 Milliarden Euro pro Jahr, die Bund und Länder als Ausgleich für das Deutschlandticket zahlen wollen, rund 1,7 Mio. Euro zu niedrig (vielzitierte Branchenangabe u.a. gem. Ministerpräsidentenkonferenz vom 08.12.2023). Andererseits, und das ist wichtiger: Die Mittel für das Deutschlandticket fehlen beim Ausbau der Infrastruktur. Schon jetzt wird die Infrastruktur bis ans Limit genutzt. Mehr Mittel braucht es alleine schon für ihren Erhalt. An Infrastrukturausbau im Regional- und Nahverkehr zur Reduzierung von Engpassstellen und anschließenden Angebotsverbesserung ist aktuell nicht zu denken. Es resultiert daher eine Steigerung der Fahrgastzahlen ohne entsprechende Angebotsausweitung. Das reduziert die Attraktivität des ÖPNV weiter. Und so betrachtet hat das Deutschlandticket das Potenzial zum Trojanischen Pferd.
Als die Energiepreise infolge des Krieges in der Ukraine in die Höhe schossen und die Mehrwertsteuer auf Sprit gesenkt wurde, wurde dies mit dem 9-Euro-Ticket im ÖPNV flankiert. Soweit ganz richtig: Gesellschaftliche Teilhabe muss unterstützt werden, anlassbezogen auch durch kurzfristige Lösungen. Das Deutschlandticket hingegen ist ein Langfristmodell und markiert einen Point of no Return, hinter den die Politik nicht mehr zurück können wird. Sozial mag das sinnvoll sein. Für den ÖPNV ist das keine tragfähige Lösung. Das Deutschlandticket heizt die Nachfrage an, ohne dass ein entsprechendes Angebot geleistet werden kann. Diese Schieflage löst in der ganzen ÖPNV-Branche, in den Kommunen, in den Aufgabenträgerorganisationen und in den Verkehrsunternehmen Sorgen aus. Dort weiß man: Bund und Länder müssen deutlich mehr drauflegen, damit das Angebot stimmt. Das würde sich über Jahrzehnte auszahlen.
Zieht man die Ausgleichsmittel zum Deutschlandticket ab, wurden die Regionalisierungsmittel lediglich um 1 Mrd. Euro angehoben. Das reicht nicht für den Ausbau. Zur Finanzierungsvereinbarung des Landes Hessen mit dem RMV für die Jahre 2023 und 2024 beklagt der RMV, dass lediglich eine Grundsicherung des Status quo für die Jahre 2023 und 2024 gewährleistet ist (wie schon für das Jahr 2022). Es geht gar nicht mehr um die Entwicklung des Verkehrsangebots, sondern lediglich noch um die Sicherung.
Schon die von 1,8% auf 3% angehobene Dynamisierung der Regionalisierungsmittel reicht für die Kompensation der Kostensteigerungen (Diesel +72% in den vergangenen 5 Jahren, Strom +200%, Personal +12%) nicht aus. Der ÖPNV wird immer defizitärer. Das geht zulasten der Gesellschafter oder zulasten des Verkehrsangebots. Gleichzeitig müsste für den Personalmarkt, in dem es kaum Kräfte für den ÖPNV gibt und der mit dem Ausscheiden der Generation der Babyboomer noch schwieriger werden wird, viel mehr getan werden als bislang, damit qualifizierte Fachkräfte gewonnen werden können.
Mehrere Faktoren sind also als Kostentreiber zu beachten: Preissteigerungen beim bestehenden Leistungsangebot (Personal, Diesel, Strom), Kostensteigerung bei der Infrastruktur (Erhalt und Ausbau bei Preissteigerungen im Baugewerbe), Mehrkosten für einen ausreichenden Personalmarkt, Zusatzkosten für die Mobilitätswende bei den Fahrzeugen (Umstieg auf emissionsfreie Antriebe) und durch Angebotssteigerungen zur Verdopplung der Fahrgastzahlen bis 2030, Ausbau der Digitalisierung u.a. beim Vertrieb und insbesondere zur Verbesserung der Fahrgastinformation, Ausbau der Barrierefreiheit.
Die Anhebung der Bundesmittel, deren Zweck die Finanzierung des regionalen Schienen- und Buspersonennahverkehrs ist, reicht angesichts der Vielzahl der Kostentreiber bei weitem nicht aus. Die Verkehrsministerkonferenz hat mehrfach die Erhöhung der Regionalisierungsmittel um 1 Mrd. Euro pro Jahr begrüßt. Aber man hat darüber hinaus zusätzliche Mittel in Höhe von 1,65 Mrd. gefordert, um alleine die Preissteigerungen auffangen zu können. Dem Regionalverkehr fehlen alleine für die Erhaltung des Status quo bereits jetzt 1,65 Mrd. Euro p.a. Dabei wurde der Lokalverkehr noch gar nicht in den Blick genommen.
Damit die lokalen Verkehrsverbindungen in den Städten und Gemeinden ihre Funktion als Zu- und Abbringer zum regionalen Schienenverkehr in ausreichendem Umfang leisten können, müssen in Hessen mehr originäre Landesmittel folgen. Auch lange Wartezeiten beim Umstieg zwischen den öffentlichen Verkehrsmitteln, häufige Umstiege und die fehlende Sicherheit bei der Erreichung der Anschlüsse sind mehr als nur ein Ärgernis. Sie schrecken potenzielle Nutzer ab. Der ÖPNV muss zuverlässig funktionieren, auch im Baustein Lokalverkehr. Das Land Hessen sollte hierbei politisch wie finanziell eine größere Rolle spielen als bislang.
Das Land verweist auf die 100%ige Durchleitung der durch den Bund bereitgestellten Regionalisierungsmittel. Wichtig für die Diskussion der Finanzierung wäre aber auch, den tatsächlichen Landesanteil an der Finanzierung des ÖPNV – gemeint sind die regelmäßigen Zuwendungen originärer Landesmittel ohne Sondermittel und ohne Mittel aus dem kommunalen Finanzausgleich – transparent auszuweisen. Je nach Datenquelle beträgt der Anteil des Landes Hessen am Mittelbedarf für den ÖPNV nur 3% (regelmäßige Zuwendungen gem. Informationen des Landkreistags) bzw. 8% (RMV, wahrscheinlich inklusive Sondermitteln infolge Corona). Den Rest tragen die Kommunen. Sie finanzieren den ÖPNV direkt als Gesellschafter der Verkehrsorganisationen oder indirekt im Rahmen des Kommunalen Finanzausgleichs. Das Land Hessen sollte die Belastung der Kommunen verringern, auch wenn diese rein rechtlich gesehen die Finanzverantwortung zu tragen haben. Bund, Länder und Kommunen sollten gemeinsam einen funktionierenden ÖPNV sichern.
Ein Investitionshochlauf im Sinne einer Angebotsoffensive ist jedenfalls nicht in Sicht. Alles bleibt beim Alten, nur deutlich voller wird es auf den attraktiven Verbindungen werden. Festzuhalten ist, dass die bundesweit gültige Jahreskarte zum Preis von 49 Euro pro Monat ein Eingriff in die Tarifhoheit der Verkehrsverbünde ist. Ein Großteil des bisherigen Sortiments, z.B. Wochen- und Monatskarte, ist dann kaum noch verkäuflich. Das gesamte Preisgefüge des Tariftableaus inkl. auch der Jobtickets und Semestertickets muss angepasst werden. Dieser Eingriff in die Tarifhoheit ist zugleich ein Eingriff in die Ertragsergiebigkeit der Tarifangebote, die damit nicht mehr in der Verantwortung der Verkehrsverbünde liegt. Das Deutschlandticket kann der Einstieg sein in den ohnehin dringend erforderlichen Umbau der Finanzierung des ÖPNV – sofern Bund, Länder und Kommunen sich der Verantwortung bewusst sind.